Gedenkrede zum Todesmarsch nach Surberg

Liebe Freundinnen und Freunde,

Vielen Dank für die Einladung nach Surberg. Vielen Dank, dass ich zum 75. Jahrestag des Todesmarsches zu Euch, zu Ihnen sprechen kann.

Um unser aller Gesundheit zu schützen, geht das leider nicht direkt, sondern mit dieser Videobotschaft. Vielleicht, so hoffe ich, erreichen wir auf diesem Weg sogar mehr Menschen als allein mit einer Gedenkveranstaltung vor Ort.

Mein Name ist Thomas Nowotny. Ich bin Kinder- und Jugendarzt aus Stephanskirchen bei Rosenheim.

Ich bin nicht religiös, aber ich trage eine Kippa, weil das hier angemessen ist, aber auch aus Solidarität mit all denen, die in Deutschland wieder Angst haben müssen, eine Kippa oder ein anderes Zeichen ihres Glaubens zu tragen.

Seit langem engagiere ich mich für Erinnerungskultur und auch für Flüchtlingsrechte, vor allem für unbegleitete Minderjährige.

Das ist kein Zufall: Auch meine Mutter, 1926 in München geboren, war ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Ihre Familie wurde aus rassistischen und politischen Gründen von den Nazis verfolgt.

Vor etwa 15 Jahren begann ich, die Geschichte meiner Familie zu erforschen. Über die Verwandten meines Großvaters Bertold Walter wusste ich wenig; denn er hatte sich 1935 in Hamburg das Leben genommen, nachdem er als Emigrant in Frankreich nicht Fuß fassen konnte und nach seiner Rückkehr den brutalen Antisemitismus in Deutschland erleben musste.

Doch im Münchner Stadtarchiv erfuhr ich von der Existenz und vom grausamen Schicksal zahlreicher Verwandter. 14 von ihnen wurden von den Nazis ermordet.

Niemand aus meiner Familie musste auf einen Todesmarsch, soweit ich weiß. Und noch vor einem Jahr hätte ich gesagt, dass auch niemand aus meiner Familie einen Bezug zur Traunsteiner Region hat.

Doch heute weiß ich, dass Max Oestreicher, 1899 in München geboren, mit seiner Frau für einige Zeit in Traunstein und Altenmarkt lebte, bevor er nach Kassel zog, um dort als Ingenieur zu arbeiten. Ich weiß das, weil es die Stolperstein-Initiative Kassel herausfand.
Max wird im Juli 1942 im KZ Sachsenhausen ermordet. Er wird 44 Jahre alt.

Max‘ Vater, mein Großcousin, der Wolle- und Fellgroßhändler Heinrich Oestreicher, wird wenige Wochen später mit 74 Jahren aus München nach Theresienstadt deportiert. Dort stirbt er im März 1943. Für ihn wird 2007 der 1. Münchner Stolperstein auf Privatgrund verlegt, trotzdem sichtbar für alle, auf dem Gehweg vor seiner letzten frei gewählten Wohnung in Schwabing.

Damals lerne ich diese Form des Gedenkens kennen und bin davon sehr berührt und beeindruckt. Über 75.000 dieser kleinen Gedenksteine gibt es heute in ganz Europa – das größte Flächendenkmal der Welt. Heute liegen Stolpersteine für meine Verwandten in München, Hamburg, Berlin, Amsterdam, Würzburg und Kassel. Und vor einigen Jahren habe ich die Stolpersteininitiative Rosenheim mitgegründet.

Bei der Verlegung für Max Oestreicher im letzten Oktober in Kassel sind vier Generationen meiner Familie dabei: Meine Mutter, ich selbst, meine Söhne und meine Enkelin. Ein gutes Gefühl.

Stolpersteine machen nichts ungeschehen, aber sie machen Einzelschicksale sichtbar und die öffentliche Anteilnahme daran erfahrbar.

Neben Heinrich Oestreicher werden sieben weitere meiner Verwandten nach Theresienstadt verschleppt. Ihre Schicksale spiegeln die große Bandbreite des Schrecklichen wider, das deportierten Juden damals angetan wurde.

Wie Heinrich werden auch der Kaufmann Hugo Oestreicher mit 69 Jahren und die Witwe Sidonie Walter mit 75 Jahren, beide aus München, in Theresienstadt ermordet.

Dagegen werden der Kürschner Emil Oestreicher – Heinrichs Bruder – mit 68 Jahren und die 75jährige Betty Hirsch geborene Walter, die zuvor aus Berlin verschleppt worden war, aus Theresienstadt weiter nach Treblinka deportiert und dort vergast.

Auch mein Großonkel Max Block wird vergast, in Auschwitz.

Max ist der Lieblingsonkel meiner Lieblingstante Nora. Einmal zeigt er ihr eine kleine Dose Vaseline mit einem Loch im Deckel und erzählt, dass er sie als Soldat im 1. Weltkrieg in der Tasche gehabt habe und von einem Geschoss getroffen wurde, das in der Vaseline steckenblieb. ‚Wenn diese Dose nicht gewesen wäre, hättest du jetzt keinen Onkel Max mehr‘, sagt er mit ernstem Gesicht.
Max erkennt früh die Gefahr durch die Nazis und flieht 1936 von Berlin nach Amsterdam.

Von dort wird er im April 1943 mit dem ersten Transport nach Theresienstadt gebracht – als „Weltkriegsteilnehmer“ hat er das Privileg, nicht sofort nach Auschwitz zu kommen. Doch anderthalb Jahre später, im Oktober 1944, wird Max Block doch nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Er wird 54 Jahre alt

„Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung“ nennt Wolfgang Benz sein Buch über Theresienstadt. Wie wahr.

Die Täuschung fängt schon vor der Ankunft an: Alte deutsche Juden werden gezwungen, einen so genannten „Heimeinkaufvertrag“ abzuschließen und damit dem staatlichen Raub ihres Vermögens einen Hauch von Legalität zu verleihen.

Und 1944 lässt die SS einen Propagandafilm drehen, der ein gutes Leben mit Sport und Kultur im jüdischen Vorzeigeghetto vorgaukelt. Nach den Dreharbeiten werden die meisten Darsteller und ihr jüdischer Regisseur Kurt Gerron im Herbst 1944 in Auschwitz vergast – genau wie mein Großonkel Max und über 18.000 weitere Insassen des Ghettos Theresienstadt.

Insgesamt kommen von November 1941 bis zur Befreiung im Mai 1945 über 141.000 Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt; weniger als 20.000 überleben.

Zwei meiner Großonkel sind unter ihnen:

Der Kaufmann Heinrich Walter, ein Bruder meines Großvaters, wird mit 67 Jahren ins Ghetto verschleppt und lebt dort fast zweieinhalb Jahre – besser gesagt: Er überlebt.

Er gehört zu den 1200 Juden, die am 5. Februar 1945 mit einem Zug aus Theresienstadt in die Schweiz fahren, freigekauft nach Verhandlungen zwischen Heinrich Himmler
und dem Schweizer Alt-Bundespräsidenten Jean-Marie Musy.

Heinrich Walter stirbt 1954 in der Schweiz.

Der ältere Bruder meiner Großmutter Paul Block ist zunächst durch seine „Mischehe“ vor Deportation geschützt, muss aber schwere Zwangsarbeit leisten. Er lebt als Kaufmann in Dortmund, wird aber zum Arbeitseinsatz nach Halle geschickt. Von dort wird er mit 58 Jahren im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert, erlebt dort am 8. Mai 1945 die Befreiung und kehrt nach Deutschland zurück.

Von den Folgen der Zwangsarbeit und Deportation erholt er sich nicht und stirbt im Februar 1952 in Dortmund.

Zehn weitere meiner Verwandten und ihre Ehepartner werden von den Nazis deportiert – nach Kaunas, Riga, Piaski, Zamosc und Minsk. Niemand von ihnen überlebt.

Nur von meinen beiden Großonkeln Heinrich und Paul weiß ich, wo sie begraben liegen.

Die in Theresienstadt Verstorbenen werden kremiert, ihre Asche zunächst in Pappurnen im so genannten Columbarium aufbewahrt. Doch im November 1944 will die SS ihre Spuren verwischen: Täuschung bis zum Schluss. Die Nazis zwingen Insassen des Ghettos, die Asche von etwa 20.000 Menschen in den nahegelegenen Fluss Eger zu werfen. Darunter auch die Asche von Sidonie, Hugo und Heinrich.

Auch in Treblinka werden Spuren beseitigt. Über 700.000 Menschen liegen dort in Massengräbern verscharrt; viele Leichen werden ab März 1943 exhumiert und auf riesigen Rosten verbrannt. Darunter die Überreste von Betty und Emil.

Max wird unmittelbar nach seiner Ermordung in Auschwitz-Birkenau im Krematorium III verbrannt. Als ich 2008 Auschwitz besuche und in den Himmel über diesem Krematorium schaue, muss ich an die Worte Paul Celans denken: „Du hast ein Grab in den Wolken…“

Wenn wir heute vor den Gräbern in Surberg stehen, denken wir an alle Ermordeten – auch an die, die keine Gräber haben.

Wir denken an die, die unter dem Druck der Verfolgung die Flucht in den Tod gewählt haben, wie mein Opa.

Wir denken an die, denen die Flucht ins Exil gelungen ist, so wie meine Mutter, meine Tante und meine Oma.

Und wir denken an die, die das KZ überlebt haben. Viele dieser Menschen und auch ihre Nachkommen leiden ihr Leben lang an den Folgen. Alle sind davon beeinträchtigt.  

Einige von ihnen haben in den vergangenen Jahren Gedenkreden in Surberg gehalten –darunter mein Freund Ernst Grube, der als Kind nach Theresienstadt verschleppt wurde, und Max Mannheimer, Hugo Höllenreiner und Marko Feingold, die Auschwitz und andere Lager überlebten. Die letztgenannten sind leider verstorben.

Sie alle haben zahllosen jungen Menschen von dem Grauen berichtet, das sie erleben mussten. Mit ihrem Vorbild geben sie uns die Kraft, ihre Botschaft weiterzugeben und ihren Kampf fortzusetzen. Gemeinsam müssen wir dafür sorgen, dass Faschismus und Intoleranz in diesem Land keine Chance haben. Wir sind absolut intolerant gegen Intoleranz!

Und wir kämpfen dafür, dass Europa sich nicht abschottet, das Recht auf Asyl bestehen bleibt und Geflüchtete weiter Schutz bekommen.

Man kann es nicht besser sagen als mit den Worten der Flüchtlingshilfsorganisation „Seebrücke“:
Kein Mensch ist egal!

Thomas Nowotny