Der erste Stolperstein in Reit im Winkl

Therese Mühlberger

Am 26. September 2020 wurde in Reit im Winkl (Landkreis Traunstein) ein Stolperstein für Therese Mühlberger verlegt, auf Initiative ihrer Enkelin Helene Leitner. Mit ihrer Erlaubnis veröffentlichen wir hier diese denkwürdige Verlegung, an der unsere Initiative (leider) nicht beteiligt war.

Aus der Rede von Helene Leitner:

„Meine Großmutter Therese Mühlberger wurde am 18.06.1898 in Unterwössen-Stücklmühle geboren. Im Jahr 1902 zog ihre Mutter, inzwischen verwitwet, mit den 5 Kindern in ein kleines Gehöft, das Moarhaus, nach Reit im Winkl. Das Leben war mühsam, die Kinder mussten in der Landwirtschaft mitarbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen, sobald sie die Volksschule verließen. Die 14-jährige Therese ging 1912 als Hausmädchen ans Reit im Winkler Krankenhaus, das in Sichtweite ihres Zuhauses lag, sowie später an ein Münchner Krankenhaus.

Im Januar 1919 war sie Schwesternschülerin im Krankenhaus des Dritten Ordens in München-Nymphenburg, schloss die Ausbildung nach einem Jahr ab und trat mit der Profess in den Orden ein. Sie war nun Schwester Wilfrieda. Aufzeichnungen des Ordens legen nahe, dass sie keine Nonne sein wollte. Nach einer Zeit als Stationsschwester im Memminger Krankenhaus flüchtete sie 1922 aus der Ordensgemeinschaft.

Therese kehrte nach Reit im Winkl zurück, um dort als Wochenbettpflegerin und selbstständige Hebamme zu arbeiten. 1925 heiratete sie Stefan Mühlberger (“Wimmer-Steff“), einen Holzarbeiter. Die beiden bauten ein Haus und gründeten eine Familie.

Als Therese 1932 vergesslich wurde, abmagerte und krank wirkte, konnte sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Untersuchungen in der psychiatrischen Klinik in München ergaben, dass eine Heilung ihrer demenziellen Symptome nicht möglich war. Schließlich wurde sie im August 1933 in die Heil- und Pflegeanstalt Gabersee (Wasserburg) eingewiesen. Sie war 35 Jahre alt. Stefan, mein Opa, und die inzwischen 7-jährige Tochter, meine Mutter, blieben ratlos zurück.

Die Jahre vergingen, Therese verfiel geistig, erkannte ihre Angehörigen nicht mehr. Ihren Platz in der Familie nahm bald eine Haushälterin ein, die den Haushalt mit großer Sparsamkeit führte und Thereses Tochter lieblos aufzog.

Am 7.11.1940 wurde meine Großmutter mit 120 weiteren Patienten und Patientinnen von Gabersee in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert und dort in der Gaskammer ermordet. Die Familie erhielt zunächst Nachricht über die Verlegung Thereses in eine andere Anstalt. Nur kurze Zeit später meldete ein weiterer Brief ihren plötzlichen Tod an einer Lungenentzündung. Todestag und Todesursache waren gefälscht. Die Familie erhielt eine Urne mit Asche, die angeblich von der Verstorbenen stammte. Diese Urne wurde am Tag der Beerdigung in einen schwarzen Sarg gestellt, der mit einem Leichenzug vom Wohnhaus zum Friedhof getragen wurde. So musste meine Mutter, 14-jährig, von ihrer Mutter Abschied nehmen.

Mit Unterstützung einer Historikerin konnte ich ab 2015 Akten aus verschiedenen Archiven erhalten, die über Leben und Leiden meiner Großmutter mehr verraten, als meine Mutter mir erzählen konnte. Am meisten berühren mich immer wieder die Briefe und Postkarten meines Opas an die Ärzte. Er schien sehr verzweifelt gewesen zu sein über den raschen Verfall seiner einst so flinken und tüchtigen Ehefrau, bis er schließlich einsehen musste, dass sie nicht mehr zurückkommt.“

Wie das OVB berichtete, sprachen an der Gedenkveranstaltung im Reit im Winkler Festsaal und der anschließenden Verlegung in der Weitseestr. 15 neben Helene Leitner unter anderem die Historikerin Dr. Sibylle von Tiedemann, Dr. med. Michael Rentrop, Chefarzt im Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg, Bürgermeister Matthias Schlechter sowie ein besonderer Zeitzeuge: Der 1924 unter Mithilfe der Hebamme Therese Mühlberger geborene Franz Schlechter.
Sie betonten die große Bedeutung des Gedenkens auch an die Opfer der T4-Mordaktion, bei der etwa 300 000 psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung in der Zeit des Nationalsozialismus von Psychiatern als „lebensunwertes Leben“ selektiert und ermordet wurden, mindestens 360 von ihnen aus Gabersee. Darüber hinaus wurden ab 1934 über 400 000 Menschen zwangssterilisiert. „Die Ideologie war, dass manche Menschen einen geringeren Wert haben“, sagte sie und betonte, dass die Stimmen der Überlebenden und der Angehörigen nach 1945 vor Gericht und in der Gesellschaft kaum Gehör gefunden hätten. „Bis heute zählen die Ermordeten und Zwangssterilisierten zu den vergessenen Opfern der NS-Gewaltherrschaft, während die Täter ihre Karrieren meist nahtlos fortsetzen konnten“.