Auseinandersetzung um Stolpersteine in Rosenheim

10. Juli 2015: Nach der Gründung unserer Initiative stellt ein Hearing im Rosenheimer Stadtrat fest, dass ein individualisiertes Gedenken an die Opfer des NS-Terrors notwendig ist. Ob dies am besten durch Stolpersteine geschieht, wie schon zuvor von der damaligen Stadträtin Bärbel Thum von der Wählerinitiative Rosenheim (WIR) beantragt, bleibt kontrovers. Einen Stadtratsbeschluss dazu gibt es bis 2022 nicht.

Die Rosenheimer CSU-Fraktion teilt Anfang 2016 mit, dass sie Stolpersteine ablehne. Einen anderen Vorschlag, wie erinnert werden solle, macht sie nicht.

27. Januar 2017: Internationaler Holocaust-Gedenktag. An diesem Tag schreiben wir in einem Offenen Brief an die damalige Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer (CSU):
„Wie lange müssen die Angehörigen noch warten? Im April 2017 jährt sich zum 75. Mal der Jahrestag der Deportation nach Piaski, der Elisabeth Block, ihre Familie und fast tausend andere Juden aus Bayern zum Opfer fielen.
Wir halten es für angemessen, dass die Stadt Rosenheim aus diesem Anlass eine Gedenkveranstaltung durchführt, zu der Experten – etwa aus dem NS-Dokumentationszentrum in München – und Angehörige eingeladen werden. Wir sind gern bereit, dabei mitzuwirken.
Spätestens bei diesem Termin muss die Stadt nach unserer Überzeugung auch eine konkrete Planung für das individualisierte öffentliche Gedenken vorstellen, unter Einbeziehung des Schicksals von Elisabeth Block.“ 

In ihrer Antwort schreibt sie: „Was das personalisierte Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus angeht, liegt wie Sie wissen die Entscheidung beim Stadtrat. Dem vorausgehen soll eine Behandlung im interfraktionellen Gespräch, dieses steht noch aus.
Der für das Thema zuständige Arbeitskreis hat in seiner letzten Sitzung vorgeschlagen, von Stolpersteinen als einziger Form des Gedenkens abzusehen und eine personalisierte Erinnerung u.a. in Form einerGedenktafekl am Städtischen Museum umzusetzen…
Ich möchte Sie um Verständnis bitten, dass weitere Schritte oder Maßnahmen unsererseits derzeit nicht möglich sind.“

Frühjahr 2021: Mehr als fünf Jahre nach dem Hearing im Rosenheimer Stadtrat gibt es noch immer kein öffentlich sichtbares Gedenken der Stadt Rosenheim für die Opfer des NS-Terrors.

Aus diesem Anlass sprechen wir (Angelika Graf, Michaela Hoff und Thomas Nowotny) mit Oberbürgermeister Andreas März und zwei seiner Mitarbeiter. Wir fordern ihn auf, Stolpersteine auf öffentlichem Grund zu genehmigen, und erläutern ihm unsere Argumente und die „Stimmen für die Stolpersteine“ aus der Region ausführlich. Leider ist seine Antwort eindeutig: Stolpersteine seien seitens der Stadt Rosenheim nicht gewünscht.

Darauf werden im Juni 2021 die ersten sieben Stolpersteine in Rosenheim auf Privatgrund verlegt. Da die Grundstücksgrenze auf den Gehwegen verläuft, sind sie trotzdem öffentlich gut sichtbar. Dem Wunsch eines Angehörigen nach einem Grußwort des Bürgermeisters kommt die Stadt nicht nach.

Am 9. November 2021 (Jahrestag der Pogromnacht) bittet der Angehörige Amnon Rimon aus Israel die Stadt Rosenheim in einem Offenen Brief, dass für Elisabeth Block ein Stolperstein vor ihrer ehemaligen Schule in Rosenheim verlegt werden kann. Die heutige Städtische Realschule für Mädchen begrüßt diesen Plan; hier steht allerdings nur öffentlicher Grund zur Verlegung zur Verfügung.

Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der CSU-Stadtratsfraktion Herbert Borrmann verläuft ergebnislos: Die Fraktion sei offen gegenüber verschiedenen Formen des Gedenkens – außer Stolpersteinen.

Einige Wochen später stellen sechzehn Rosenheimer Stadträte, die sechs Parteien angehören, den Antrag an den Stadtrat, der Verlegung von Stolpersteinen im öffentlichen Raum zuzustimmen.

Januar 2022: In einem Brief gehen wir ausführlich auf die Gegenargumente der CSU-Fraktion ein, insbesondere zu diesem Thema:

„Kurze Stellungnahme zu den Argumenten gegen Stolpersteine in Rosenheim:
‚Der Künstler verdient viel zu viel Geld damit‘
Jeder Stein kostet 120 Euro, und es gibt weit über 80.000. Ist Gunter Demnig Millionär?
Nein. Gunter Demnig ist bei der ‚Stiftung – Spuren – Gunter Demnig‘ angestellt und bekommt ein durchschnittliches Festgehalt. Alle Zahlungen und Spenden für die STOLPERSTEINE werden auf das Konto der Stiftung eingezahlt. Die Stiftung ist gemeinnützig und wird jährlich geprüft, so dass die Gelder weder veruntreut noch für private Zwecke ausgeben werden können.
Die Kosten für einen STOLPERSTEIN haben wir so berechnet, dass wir unsere Verlegungen und den Projektablauf sicherstellen können. Von den 120,- Euro werden sowohl das Material, die Organisation, die Beratung, die Nachrecherche, die pädagogische Begleitung von Schulklassen, die Herstellung der Steine per Hand, der Transport mit Post und Auto, die Anreise und Verlegung der Steine durch Gunter Demnig, das Material zum Verlegen der STOLPERSTEINE als auch die Einpflegung der Daten und Biografien der Opfer in unsere Datenbank finanziert. (http://www.stolpersteine.eu/de/faq/)

Nachdem sich die CSU hierzu weiterhin sehr ablehnend äußert und eine Mehrheit für den Antrag ungewiss scheint, schreiben wir einen Offenen Brief an Oberbürgermeister März. Dieser antwortete, dass er sich vor dem Stadtratsbeschluss nicht dazu äußern wolle. Der Beschluss wird am 23. Februar 2022 erwartet; zuvor berät am 15. Februar 2022 der Hauptausschuss. Über Antrag und Offenen Brief berichtet auch das OVB.

In dieser Situation veröffentlicht das OVB den Vorschlag von Alt-Vizebürgermeister Anton Heindl (CSU), an einem zentralen Ort in Rosenheim an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu erinnern, und zwar mit einer Stele vor der Heilig-Geist-Kirche. Unsere Stellungnahme dazu als Leserbrief wird nicht abgedruckt, dafür aber andere Leserbriefe mit Zustimmung zu den Stolpersteinen.

Februar 2022: Auch die CSU stellt nun einen Antrag zur Erinnerungskultur, der im OVB viel Raum findet. Unklar bleibt im Artikel, um welchen Beschluss es geht: Tatsächlich um „eine Umsetzung des Stadtratsbeschlusses vom 10.05.2015 zum personalisierten Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus bis spätestens 30.06.2022“. Noch nicht einmal sieben Jahre sind seit dem Hearing vergangen, und schon drängt die CSU auf rasche Umsetzung. Respekt! Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass die plötzliche Eile durch den „moralischen, politischen und gesellschaftlichen Druck“ der „Protagonisten der Stolpersteine“ bedingt ist, unter dem die CSU-Fraktion nun leiden muss und den sie strikt ablehnt. Natürlich verdient auch dieser Artikel einen Leserbrief. Der CSU-Fraktion wird eine Aufforderung von Gunter Demnig zugestellt, wahrheitswidrige Behauptungen über ihn zu unterlassen.

Vor der Sitzung des Hauptausschusses veröffentlichen wir eine Presseerklärung, in der wir den Stadtrat bitten, bei seiner Entscheidung den Wunsch der Angehörigen zu berücksichtigen. Beigefügt sind zahlreiche Stimmen für die Stolpersteine aus der Zivilgesellschaft. Im Hauptausschuss wird dann nicht abgestimmt und die Entscheidung auf die Stadtratssitzung am 23.03.2022 vertagt. An diesem Tag erreicht den Oberbürgermeister ein Brief des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, der sich klar für die Verlegung von Stolpersteinen ausspricht. Doch die Position der CSU scheint wie in Beton gegossen: Keine Stolpersteine, stattdessen werden Erinnerungszeichen wie in München in Aussicht gestellt. Mit einer sehr knappen Mehrheit lehnt der Stadtrat den Antrag zur Verlegung von Stolpersteinen auf öffentlichem Grund ab.

März 2022: Damit kann die geplante Verlegung der Stolpersteine für Lisi Block und Familie Kohn am 07.03.2022 in Rosenheim nicht stattfinden. Wir laden stattdessen ein zu einer öffentlichen Nicht-Verlegung. Gleichzeitig kritisieren wir die Entscheidung des Stadtrates in einem Offenen Brief an Oberbürgermeister März, der umgehend eine Erwiderung veröffentlicht, in der er unserer Gruppe undemokratisches Verhalten unterstellt. Unsere Antwort darauf ist nicht öffentlich, sondern nur an den Stadtrat gerichtet; sie kann hier nachgelesen werden.

April 2022: Am 04.04.2022 ist der 80. Jahrestag der Deportation nach Piaski. Schon vor Monaten haben wir die Stadt erneut zur Ausrichtung einer Gedenkveranstaltung aufgefordert. Dies ist wieder nicht erfolgt, doch immerhin stellt die Stadt finanzielle Unterstützung für unsere Veranstaltung zur Verfügung, bestehend aus einem Vortrag und der Projektion „Faces for the Names am 07.04.2022.
Im Verlaf wird klar, dass die Stadtführung auch die versprochenen Erinnerungszeichen nicht favorisiert und stattdessen den „Rosenheimer Weg“ mit einem Künstler*innenwettbewerb gehen will.