Biographie der Familie Block
Fritz Block, der Vater, wurde am 12.03.1892 in Hannover geboren und am 28.07.1896 in der gleichen Stadt seine Frau Mirjam. Beide stammten aus wohlhabenden und angesehenen Hannoveraner Bürgerfamilien. Sie heirateten am 10. Juni 1920 im Hachscharahzentrum Halbe. Mit dem hebräischen Wort für Ertüchtigung „Hachscharah“ bezeichnet man die berufliche und sprachliche Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina, wofür die Blocks ganz offenbar Pläne entwickelt hatten. Denn ab 1917 hatte Fritz Block sich dem Zionismus zugewandt.
Fritz Block hatte zuvor das Königliche Goethe-Gymnasium in Hannover besucht, im Februar 1910 das Abitur gemacht und in Hannover und in München Elektrotechnik studiert. Am ersten Weltkrieg hatte er als Flieger-Unteroffizier der preußischen Armee teilgenommen und im November 1917 das Studium fortgesetzt und es im April 1918 mit dem Diplom abgeschlossen.
Auch seine Frau Mirjam hatte in Hannover das Abitur abgelegt, wahrscheinlich 1912. Womit sie sich danach bis zur Heirat beschäftigte, ist nicht bekannt.
Fritz Block und wahrscheinlich auch seine Frau nahmen nach der Hochzeit als Vorbereitung auf Palästina an einem landwirtschaftlichen Kurs teil, der eineinhalb Jahre dauerte. Warum die Auswanderung nicht gleich vollzogen wurde, ist bisher nicht bekannt.
Fritz Block erwarb mit Datum vom 22. Dezember 1921 das 2,77 Hektar große Anwesen in Niedernburg. Dort bauten sie eine bald gutgehende Gärtnerei auf.
In Niedernburg kamen dann auch ihre drei Kinder zur Welt. Am 12. Februar 1923 wurde Elisabeth geboren, am 28. Oktober 1927 Gertrud und am 23.November 1928 Arno.
Fritz Block war aber nicht nur ein tüchtiger Gärtner, sondern, wie Zeitzeugen mitteilten, verstand er sich auch als Künstler. So töpferte er und malte. Auch schrieb er, der als „ernst und zurückhaltend“ beschrieben wird, Gedichte und Briefe, die Ausdruck seiner umfassenden Bildung und tiefgreifenden Lebenserfahrung sind. Seiner siebzehnjährigen Tochter Elisabeth schreibt er am 22.7.1940, sie möge „sich nie zuviel auf einmal vornehmen“ , womit er ihr helfen will, ihre Aufgaben zu ordnen und die Kräfte sinnvoll einzuteilen. Und es heißt weiter in diesem Zusammenhang: „Zur Beobachtung der kleinsten Dinge, wie sie der Maler und Naturliebhaber pflegt, gehört auch ein gewisses mäßiges und ruhiges Tempo, das dem Menschen so gedeihlich ist“. Und am 10. Februar 1941, zwei Tage vor Elisabeths 18. Geburtstag, formuliert er für sie: „Die Kinderjahre hinter sich zu haben und die Zeit gut genutzt zu haben, um aus einem schönen kleinen Menschenkind zu einem vernünftigen und tüchtigen, gesunden und frohen Menschen zu werden, das ist ein beglückender Gedanke“. Ein „beglückender Gedanke“ soll dies sicher nicht nur für seine älteste Tochter sein, sondern auch er selbst sieht sich glücklich, dass all seine Mühen und die seiner Frau sich gelohnt haben. In steigernder Reihenfolge sind „tüchtig“, „gesund“ und „froh“ aneinandergereiht. Ja, das war dem Vater ganz besonders wichtig, dass seine Kinder in diesen dunklen, schrecklichen Zeiten keinen Schaden an ihrer Seele nahmen.
Am 26. April 1940 geschah es dann, dass Fritz Block zu Gleisarbeiten zwangsverpflichtet wurde. Nur an den Wochenenden konnte er wenige Stunden zu Hause verbringen. Bei dieser harten Arbeit sollte der fast 50-jährige sich ein schweres Rheumaleiden zuziehen. 13 Stunden täglich musste gearbeitet werden und das bei Wind und Wetter, und in den kurzen Pausen malte er, wohl, um die Arbeit auszuhalten, noch kleine Bilder, die er am Wochenende mit nach Hause brachte.
Der Zusammenhalt der Familie lag jetzt ganz in den Händen seiner Frau Mirjam. Diese wird von einer Jugendfreundin Elisabeths als „eine ganz fröhliche Frau“ beschrieben. Paula Bauer, eine Freundin, bezeichnet sie als eine sehr „mütterliche Frau, wirklich richtig mütterlich. Die hat sich also um alles gesorgt, um die ganze Umgebung hat die sich gesorgt, wenn da etwas gewesen ist.“ Mirjam Block galt als eine „intelligente, feine Frau“, so Albert Wagner, ein ehemaliger Freund der Kinder. „Die hat so eine nette Art gehabt, die Frau, so eine ruhige Art. Und…wenn sie dir was erklärt hat, die hat das so nett machen können.“ Die Kinder seien, so Elisabeth Stilke, eine Freundin der Kinder, „sehr zur Toleranz erzogen worden“. Hanna Levy, eine Cousine von Elisabeth, schrieb nach einem Aufenthalt in Niedernburg: „Die häusliche Atmosphäre war sehr warm und harmonisch, einfach und geschmackvoll. Mirjam war eine ungewöhnlich starke, ruhige (beruhigende) und fleissige Frau (…).“
Darüber hinaus hilft auch ein Blick in die wenigen erhaltenen Briefe von Mirjam Block, ein Bild von ihr zu gewinnen. Am 17. November schreibt sie an ihre Schwester Else Levy in Bad Polzin, deren Mann, Dr. Leo Levy, am 9./10 November während der Reichspogromnacht in seiner Wohnung von SA-Männern ermordet wurde. Sie berichtet kurz von der familiären Situation in Niedernburg und schreibt dann:
„Man kann ja nichts ändern, den Sinn nicht finden und so ist das Denken ganz umsonst, das Denken über das Allernächste hinaus. Man kann nur hoffen, und Du sollst nur wissen, wie sehr, sehr ich dich lieb habe“
Aus diesen Worten des Mitgefühls und der engen Verbundenheit hören wir tiefe Trauer und Resignation, aber vernehmen auch den Rest an verbliebener Hoffnung. An eine Freundin, die bereits nach Palästina ausgewandert ist, schreibt sie am 1. Januar 1940:
„Wir leben sehr still und ruhig hier draußen, sind viel im Freien, im Winter spazierend und im Sommer hatten wir ja immer sehr viel mit dem drei Morgen großen Garten zu tun, nächstes Jahr haben wir noch ein kleines Stück zum eigenen Gebrauch, da der Besitzer das Übrige selbst bebaut.“
Dass sie ihr Haus verkaufen mussten, steht nur zwischen den Zeilen. Was Mirjam formuliert, klingt erneut sehr zurückgenommen und resignativ, sehr ergeben in das, was kommen mag, aber doch auch wieder mit einem kleinen Lichtschimmer versehen.
In einem Brief vom 24. Februar 1940 schreibt sie an HETE, Frau Lehmann, eine Verwandte in der Schweiz, die als Tarnadresse diente und den Brief weiter an Else Levy in Palästina schickte:
„Wir sind alle gesund und die Kinder sehr munter und reißen mich dadurch auch mit“.
Ganz in ihrer Mutterrolle freut sie sich über die Gesundheit der Kinder und ihre nicht verlorene Lebensfreude. Sie berichtet weiter ausführlich über Gertrud und Arno und klagt darüber, dass ihre Wünsche nach Auswanderung sich in absehbarer Zeit nicht verwirklichen lassen.
„In unserer Sache ist noch gar nichts zu übersehen (…), daß es wirklich ganz von der Vorsehung abhängt, wie sich alles entwickelt, und der muß man sich ja jedenfalls fügen“.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mirjam eine sehr gebildete Frau war, die sich intensiv um die Kinder und vor allem deren Bildung kümmerte, als diese keine Schule mehr besuchen durften, sehr belesen war und ausgesprochen tatkräftig sich um die Gärtnerei und den Haushalt kümmerte. Sie hielt die Familie zusammen und pflegte die Kontakte zu den Bewohnern der Ortschaft. Mirjam wusste natürlich genauso wie ihr Mann um die politischen Verhältnisse in Nazi-Deutschland und dass den Juden Schritt für Schritt die Lebensgrundlagen entzogen wurden. Schwer lag diese Last auf ihren Schultern und auf ihrer Seele und es dürfte ihr nicht leicht gefallen sein, das Grauen und den Schrecken, soweit es ging, vor den Kindern verborgen zu halten, um diesen nicht das ganze Lebensglück ihrer Kindheit und Jugend zu nehmen.
Bevor ich zu Elisabeth komme, über die wir natürlich aus ihren Tagebüchern am meisten wissen, soll auf ihre Geschwister Gertrud (geb. 1927) und Arno (geb. 1928) eingegangen werden. Gertrud war 4 ½ Jahre jünger als Elisabeth und Arno 5 ½ Jahre. Das ist wichtig wahrzunehmen, weil sie dadurch für Elisabeth, als sie zehnjährig ihr Tagebuch anfing, noch als kleine Kinder wahrgenommen wurden.
Über ihre damals dreizehnjährige Tochter Gertrud schrieb ihre Mutter in einem Brief 1940:
„Trudi ist sehr ähnlich wie ich war, nur daß sie zum Glück so viel Bewegung in frischer Luft hat, sie zeichnet nett, spielt Zither, lernt nett, alles nicht aufregend, aber doch leicht auffassend und dabei das Phlegma wie bei mir. (…) Lesen tut Trudi auch möglichst jeden Tag ein Buch und dabei fast den gleichen Geschmack wie ich. Sehr gut spielt sie Schach für ihr Alter.“
Fast zwei Jahre später notiert auch Elisabeth in ihrem Tagebuch:
„Trudi hat jetzt ganz gewaltige Fortschritte in der Malerei gemacht und auch im Zitherspielen.“
Gertruds Freundin Elisabeth Stilke erinnert sich, dass Gertrud „sehr lebhaft, sogar ein bißchen aufrührerisch“ gewesen sei. Sie habe sich nichts gefallen lassen und sei richtig frech gewesen. Albert Wagner, ein Freund der Kinder, meint, sie sei „unwahrscheinlich gescheit“ gewesen.
Elisabeth erwähnt, dass auch immer wieder Gertruds Geburtstag gefeiert wird, wobei die Einträge sich sehr ähneln. Zum 7. Geburtstag heißt es z.B.:
„Nachmittag war große Kindergesellschaft. Bei schönem Wetter tranken wir draußen Kaffee. Dann machten wir schöne Spiele und Topfschlagen (…)“.
Auch als Spielkameradin taucht Trudi hin und wieder auf. Aber insgesamt wird sie nur wenig erwähnt. Mal sagt sie am Muttertag ein Gedicht auf, mal ist sie bei einem Spaziergang dabei. Mit 14 backt sie eine schöne Nusstorte für die Mutter zum Geburtstag. Sie hilft mit bei der Gartenarbeit. Schließlich muss sie auch Zwangsarbeit bei einem Bauern in der Nähe verrichten. Mehr erfahren wir nicht über sie. Natürlich treffen alle politischen Einschränkungen auf sie genauso zu wie auf Elisabeth. Sie darf nicht mehr zur Schule geht, leidet sicher mit unter dem Hausverkauf und der Bewegungseinschränkung, der Verweigerung von Kleiderkarten und all den anderen die Juden degradierenden und ausgrenzenden Maßnahmen. Aber kann sie das alles bereits einordnen? Als sie mit nach Polen deportiert wird, ist sie erst 14 ½ Jahre alt, steht erst am Anfang ihres Lebens.
Noch viel weniger wissen wir über Arno, dem sein Leben schon mit 13 genommen wird. Die Mutter schreibt 1940, als Arno 12 ist, in dem schon erwähnten Brief über ihn:
„Arno ist ein ganzes Kapitel für sich. Und ich muss schon sagen, dass Jungens ja wesentlich schwieriger als Mädels sind. Begabt ist er wohl hauptsächlich fürs „Schrauben“, anders kann ich mich nicht ausdrücken, denn weder Lesen und Lernen interessiert ihn, nur so zusammengesetzte und zusammengebastelte Sachen, und dann mag er gerne draußen sein, er läuft so, wie er Zeit hat, Ski und kommt klitschnaß heim. Vorlesen hören abends ist seine ganze Wonne, aber zum Lesen muß man ihn trietzen. Meine Sprachstunden mit ihm sind jedesmal ein Theater, von Lernen oder Konzentrieren hat er gar keine Ahnung, wenn etwas hängen bleibt, ist es ein reiner Glücksfall.“
Ich denke, was die Mutter schreibt, kennzeichnet einen ganz normalen Jungen dieses Alters. Arno ist noch ein Kind, das raus will, Freude an der Natur hat, gerne bastelt, spielt und Freude an der Bewegung empfindet.
Ein Kind, das Opfer einer brutalen, mörderischen Gewaltherrschaft geworden ist.
Am meisten wissen wir natürlich über das Leben von Elisabeth Block, da diese ihre Gedanken und Gefühle bekanntlich in einem umfassenden Tagebuch niederlegte (Erinnerungszeichen, Die Tagebücher der Elisabeth Block, Rosenheim 1993). Als Kind von 10 Jahren begann sie am 12. März 1933 zu schreiben und musste mit 19 Jahren am 8. März 1943 abrupt aufhören.
In den ersten Aufzeichnungen ihrer sechs Tagebücher beschreibt sie ihre kindlichen Freuden und Alltagserlebnisse. Bezeichnend für Inhalt und Stil der Anfangszeit mag folgende Passage klingen:
„24. September 1933 Heute fuhren wir nach Kolbermoor. Dort spielten wir den ganzen Tag. Wir gingen auch zu Zenthas Freundin. Und in eine Kiesgrube, dort spielten wir recht schön mit Zenthas großer Puppe. Abends fuhren wir wieder heim.“
Gerne fährt die Zehnjährige auch mit ihrem Vater in die Stadt auf den „Grünen Markt“ in Rosenheim. Am 9. September 1933 notiert sie:
„Ich darf jetzt alle Donnerstage und Samstage auf den Markt fahren und Sachen verkaufen. Ich bringe sie jedesmal los. Das tue ich gerne.“
Noch wird über das Zeitgeschehen nichts berichtet, nichts über die „Machtergreifung“ Hitlers und die Gleichschaltung der Länder. Es sind ausschließlich persönliche Erlebnisse, die mitgeteilt werden wie Radtouren, die Osterfeiertage, Besuche und die erste Begegnung mit ihrer fortan besten Freundin Liesel Weiß (Elisabeth Stilke). Immer wieder erzählt Elisabeth von Geburtstagen und häufig enden ihre Eintragungen mit dem Satz: „Es war sehr schön.“
Auch von kleinen und großen Ausflügen ist ständig die Rede.
So heißt es am 8., 9. Juli 1933:
„Der 8. und 9. Juli waren schöne Tage. Am Samstag, den 8. sind Papa und Mutti und ich mit dem Postauto nach Rosenheim gefahren. Wir wollten eigentlich nach Burghausen fahren, aber das Auto fuhr nicht. Deshalb gingen wir in den Riedergarten, in eine Konditorei und Mutti und ich ins Heimatmuseum. In diesem gefiel mir die Küche am besten, da hat gerade so eine Sparbüchse gestanden wie ich habe, aber sonst lauter alte Sachen. Dann habe ich einen neuen Badeanzug bekommen.“
Am 1. Mai 1934 hörte sie ihre erste im Rundfunk übertragene Ansprache. „Es sprach zuerst Dr. Goebbels und dann unser Führer.“ Am 3. Juni 1935 sah sie erstmals einen Propagandafilm. „Wir durften den gewaltigen Film vom Parteitag 1934 ´Triumph des Willens` anschauen.“ Für sie war das „eine große Freude“, ebenso wie die Vorführung des „interessanten Tonfilms ´Stoßtrupp 1917`“.
Für eine Elfjährige war es damals wohl kaum möglich, sich der Faszination der gekonnt gemachten Propagandafilme zu entziehen. Peter Miesbeck kommentiert in seiner hervorragenden Einführung zum Tagebuch: „Es ist schwer zu sagen, ob Elisabeth zunächst nicht begriff oder nicht begreifen wollte, was sich um sie herum zusammenbraute oder wie sehr sie von ihren Eltern abgeschirmt wurde. Selbst die Nürnberger Gesetzte von 1935 erwähnt sie an keiner Stelle.“
Aber diese politischen Einträge sind ausgesprochen selten. Ihr Leben spielt sich in der Familie ab, in der Natur und im Zusammensein mit Freunden.
Sehr häufig wird über ausgedehnte Wanderungen berichtet und über Ausflüge mit ihren Freundinnen oder den Eltern, wobei für den heutigen Leser erstaunt, welche langen Strecken als ganz selbstverständliche mit dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden. So heißt es für den 11. und 12. Juni 1935, an dem Elisabeth erst 12 Jahre alt ist:
„Wir hatten unsere Rucksäcke für zwei Tage gepackt und marschierten um ½ 6 Uhr morgens los. Mutti, Eva und ich hatten nämlich eine Wanderung von Oberaudorf über den Tatzelwurm nach Bayrischzell und auf die Rotwand vor. So wanderten wir in der Morgenkühle nach Rosenheim. Von dort fuhren wir mit der Bahn nach Oberaudorf. Da angekommen fragten wir nach dem Weg zum Tatzelwurm. Jetzt wurde es schon immer heißer. Hie und da rasteten wir einige Minuten an einem erfrischenden Quell. Zur Mittagszeit gelangten wir auf den Tatzelwurm, von dort begaben wir uns zu der ersten Wirtschaft und stärkten uns tüchtig. Dann ging es weiter, an dem herrlichen Wasserfall vorbei zu dem seltsamen Erdrutsch.“
Ausführlich wird weiter berichtet, wie sie Bayrischzell erreichten, um 16 Uhr den Weg zur Rotwand antraten, einen reißenden Bach durchqueren mussten und nach zwei Stunden die Schellenberg-Alm erreichten, wo sie übernachteten. Am nächsten Tag ging es weiter zum Schliersee, wo die Mädchen um den ganzen See ruderten und dann mit der Bahn nach Rosenheim zurückfuhren und von dort zu Fuß nach Niedernburg liefen.
So vergingen die Jahre und aus Elisabeths Aufzeichnungen ergibt sich, mit welcher Freude sie ihr Leben führte, wie reich es an Erlebnissen war und wie sehr sie sich an der schönen Landschaft erfreute. Die Kriegsereignisse nimmt sie nicht wahr oder blendet sie aus.
Am 7. April wurde Elisabeth aus der Volksschule entlassen und besuchte dann eine Nähschule und ab dem 12. April 1937 die von katholischen Schulschwestern geleitete Haustöchterschule in Rosenheim, die heutige Mädchenrealschule. 44 Mädchen waren in ihrer Klasse, Elisabeth erzielte gute Noten und gehörte zu den zehn Besten. Nach Aussagen von ehemaligen Mitschülerinnen gab es keinerlei Diskriminierung. Die Armen Schulschwestern mussten im April weltlichen Lehrkräften weichen. Die ehemalige Klassenleiterin M. Immolata Rödel wusste um die Gefahr und die Bedrohung, in der sich Elisabeth fand. In einem Brief an eine ehemalige Mitschülerin schreibt sie:
„Block, Elisabeth kann ich mir noch gut vorstellen. Sie hatte tiefschwarzes Haar zu einem Zopf geflochten, große, dunkle Augen. Sie blickte immer traurig drein. Ich habe sie als gute Schülerin in Erinnerung. Weil ich wußte, was Juden im „1000-jährigen Reich“ erwartete, hatte ich großes Mitleid mit ihr (…).“
Und dann heißt es in ihrem Tagebuch vom 16. November 1938 ausgesprochen unvermittelt:
„Um uns von den traurigen Gedanken und Sorgen, die der Tod unseres lieben Onkels Leo und überhaupt die letzten zehn Tage mit sich brachten, zu befreien, machten wir einen schönen Spaziergang zu unserem lieben See, wo wir am Ufer in der warmen Herbstsonne saßen…“
Wie erwähnt, war Dr. Leo Levy bei der so genannten „Reichskristallnacht“ von SA-Männern ermordet worden.
Nun geht es Schlag auf Schlag. Am 17. November schreibt Elisabeth:
„Nun ist das von Mutti schon so lang Geahnte geschehen: Ich und auch Trudi und Arno dürfen nicht mehr zur Schule gehen. Mit furchtbar schwerem Herzen trennte ich mich von meinen lieben Mitschülerinnen.“
Zu der Zeit waren bereits über 30.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt worden. Mirjam, Elisabeths Mutter, schreibt an ihre Schwester Else Lewy über Elisabeth:
„Sie ist so sehr verständig und mitfühlend, dabei so bemüht mich abzulenken, und ging so gestern so tapfer zur Schule, um zu hören, ob sie noch bleiben könnte, alle waren so freundlich zu ihr, und der Abschied fiel ihr sehr schwer, aber sie ist froh, daß sie ihn nun hinter sich hat.“
Für die Eltern ist es selbstverständlich, dass sie ihre Kinder jetzt selber unterrichten müssen. Ob es Englisch ist oder Spanisch, Geographie oder Geschichte – jetzt können die Eltern auf ihr breites Wissen zurückgreifen. Für die Kinder bedeutet das, dass der Unterricht und die Mithilfe im Garten direkt ineinandergreifen. So notiert Elisabeth in einem Atemzug beispielsweise für Samstag, den 22. April 1939:
„Schule: Geschichte und Erdkunde von Südamerika, Himmelskunde. Ringelblumen, Kapuzinerpresse gesät, Frühkartoffeln gelegt, Zwiebel- und Spinatbeet geharkt, Weißkraut verstupft, Stroh von Blumen losgemacht, Erdbeeren gesäubert.“
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Elisabeth unglaublich viel gelesen hat und selbst von ihrer „Lesewut“ spricht. Es liegt eine Lektüreliste von ihr vor, die mehrere Hundert Bücher umfasst. Neben weniger anspruchsvollen Werken finden wir beispielsweise auch „Krieg und Frieden“ sowie „Anna Karenina“ von Tolstoj. „Dichtung und Wahrheit“ von Goethe, „Das Bildnis der Dorian Gray“ von Wilde, „David Copperfield“ von Dickens, die „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, ferner Werke von Swift, Fontane, Storm, Stifter, Keller, C. F. Meyer und von Ibsen, Strindberg, E.T.A. Hoffmann, Hebbel, Hesse und vielen, vielen anderen. Man kann es kaum glauben. Sie muss in jeder freien Minute gelesen haben.
Währenddessen schreitet die Entrechtung der jüdischen Familie ständig fort. Das Haus muss im Rahmen der „Arisierung“ jüdischen Besitzes am 31. Mai 1939 für nur 10.000 Reichsmark verkauft werden. Am 4. Oktober notiert Elisabeth:
„Erfuhren dieser Tage, daß die Bewilligung zur Übergabe unseres Hauses kam, dürfen aber die oberen Zimmer noch bewohnen und richten uns die Waschküche als Wohnküche, Obstkammer und Werkstatt als Vorratskammer ein.“
Wenn man liest, wie nüchtern vom Verlust ihres Wohnhauses berichtet wird, spürt man, dass sie nicht über das schreckliche Unrecht reden will und versucht das Beste aus dem zu machen, was sich nicht ändern lässt. Das kann man nur als Überlebensstrategie verstehen.
Dann erfolgt ab November der Entzug der Reichskleidermarken, ab Januar 1940 erhalten Juden auch keine Spinnstoffe, Schuhe und Ledermaterial mehr.
„Da wir ja nicht das Geringste an Kleidungsstücken kaufen können, muß man alles immer wieder in Ordnung bringen.“
Am 20 April 1940 äußert Elisabeth erstmals den Wunsch nach baldiger Emigration:
„Wenn wir nur auch schon so weit wären.“
Der Vater wird wenige Tage später zur Zwangsarbeit im Gleisbau verpflichtet und die deutsche Kriegsoffensive im Westen beginnt. Elisabeth hilft nach Kräften daheim der Mutter, und alle freuen sich, wenn am Wochenende Papa für wenige Stunden heimkommt. Auch die Nahrungsmittel werden jetzt knapp. Man bereitet die Ausreise vor, Passbilder lässt man anfertigen, doch dann wird ihnen das Visum verweigert.
Ab Mai 1941 müssen auch Elisabeth und Gertrud Zwangsarbeit verrichten. Sie werden Bauern in der Umgebung zugeteilt. Elisabeth kommt nach Benning auf den Hof von Wolfgang Loy und Gertrud nach Vogtleiten. Elisabeth findet Freude an der Arbeit, muss aber den ganzen Tag arbeiten und oft auch über Nacht bleiben, weil sich das Heimfahren nicht mehr lohnt.
Und immer weiter geht die Entrechtung. Am 21. September 1941 schreibt Elisabeth:
„Leider können wir nun gar nicht mehr fortfahren und in unseren geliebten Bergen wandern: Es ist uns Juden seit 19. September verboten, ohne Erlaubnis außerhalb unseres Polizeigebietes zu gehen und außerdem müssen wir jetzt alle einen riesigen gelben Davidstern, mit Jude in der Mitte, angenäht in der Öffentlichkeit tragen. (…) Man kann sich denken, daß die Stimmung ziemlich schlecht ist ob solch einer Gehässigkeit und Boshaftigkeit, denn weiter ist es doch nichts, als die pure Boshaftigkeit. Endlich wird doch einmal wieder eine andere, bessere Zeit für uns kommen, man hofft eben von Jahr zu Jahr (…).“
Doch schon drei Wochen später erreicht ein Brief die Eltern, dass Verwandte in Elbersfeld „Befehl erhalten hätten, bis in kurzer Zeit ohne Gepäck nach Polen abzureisen, ebenso wie Tante Annchen vor zwei Jahren – und sie sich daraufhin das Leben genommen hatten.“
Elisabeth schreibt in ihr Tagebuch am Samstag den 19 und 20. Oktober 1941:
„Man kann sich denken, welche Angst sich unser bemächtigte, sowohl um unsere Verwandten, als auch um uns selbst. Wie leicht kann uns dasselbe schreckliche Los treffen, ohne irgendwelche Sachen jetzt im Winter in dieses wüste Land mit seinen fast unmöglichen Lebensverhältnissen. Entsetzlich dieses Ungewisse, diese Angst um ein bißchen Leben, und beinah kein Ausweg, grauenhaft; nur noch an Gott kann man sich klammern und immer wieder bitten und nicht verzagen. Es kann doch nicht ewig mehr dauern, diese Zeit, nur die Arbeit bringt einen auf andere Gedanken.“
Große Ängste bestimmen jetzt das Leben der Familie Block. Im Tagebuch schildert Elisabeth ihre Angst, von der Zwangsarbeit abends zurück nach Niedernburg in ein leeres Zuhause zu kommen:
„(…) wenn ich länger nicht heimkomme, werde ich unruhig und schlimme Gedanken und Ahnungen wollen sich meiner bemächtigen, denn wie leicht könnte es sein, daß ich ein leeres Haus anträfe und ich nur noch allein übrig geblieben wäre! Es ist undenkbar grauenhaft und bedrückend. Man darf gar nicht an so etwas denken“.
Nur langsam kehrt so etwas wie Alltag wieder ein. Die Geburtstage der Geschwister werden gefeiert und die Arbeit auf dem Bauernhof hilft die mögliche schreckliche Zukunft zu verdrängen. Das Weihnachtsfest kommt. Im Kreise der Familie werden Lieder gesungen und Geschenke ausgetauscht. Elisabeth wird im Februar 19 Jahre alt. Und dann nach dem Eintrag vom 8. März 1942 bricht das Tagebuch abrupt ab.
Wann und wie der Befehl eintraf, das Haus verlassen zu müssen und sich in das Sammellager Milbertshofen zu begeben, ist unbekannt. Es blieb noch Zeit, den Haushalt aufzulösen und die Wertsachen sowie die Tagebücher von Elisabeth an Kathi Geidobler, die langjährige Haushälterin und treuen Freundin, zu übergeben.
Im Milbertshofener Barackenlager wurde die Familie Block dann zunächst aller Habseligkeiten beraubt. Am 3. April 1942 verließ ein Transport mit 989 bayerischen Juden das Lager mit dem Ziel Piaski im Distrikt Lublin.
Als der Zug dort ankam, herrschte eisige Kälte und es lag Schnee. Die Lebensbedingungen waren schrecklich. Die wenigen sanitären Anlagen des Ghettos waren in einem katastrophalen Zustand, die Grundversorgung mit Nahrung und Trinkwasser absolut unzureichend und das Lager war hoffnungslos überbelegt. Viele der Verschleppten starben bereits in den Ghettos an Hunger und Krankheiten oder sie wurden während der sogenannten „Aktion Reinhardt“ umgebracht. Zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 ermordeten die Nationalsozialisten über zwei Millionen Juden aus den verschiedenen Ghettos und Lagern der Region in den drei Vernichtungslagern Treblinka, Belzec und Sobibor. Überlebende aus München und Oberbayern sind nicht bekannt.
Am 1. November 1942 wurde das Ghetto Piaski liquidiert. Ein Restghetto bestand bis zum 1.März 1943. Zwischen 1000 und 2000 der letzten Ghettobewohner wurden bei der endgültigen Auflösung erschossen.
Das letzte Lebenszeichen der Familie Block ist eine Postkarte, die Mirjam am 21. April 1942 an die neuen Besitzer ihres Hauses schrieb. Darin heißt es:
„Liebe Christl und lieber Heinrich. Nun sind wir schon über 14 Tage hier und sicher haben Regerl und Kathi Euch schon die Grüße bestellt, die wir auf den beiden Karten angeschafft haben. Gut, daß Du nicht hier bist, Christl, denn die Mäuse laufen am hellichten Tag in unsrer Hütten umeinand und im Dreck bleiben die Schuhe stecken. Aber jetzt sind wir froh, dass es wärmer wird, besonders, weil wir nicht viel Wäsche zum Wechseln haben, die Sommerkleider werden uns nicht abgehen, aber bald können wir aus einem Kleid zwei machen, so dick werden wir bei der reichlichen Kost. Schreibt uns nur mal bald, wir warten sehnlichst auf Post…
Wir haben noch immer keine Lohnarbeit gefunden, hoffen aber weiter, solche zu finden und noch unsre Koffer zu bekommen. Wir sind zum Glück gesund. Lisi hilft in der Gemeinschaftsküche, wir was es noch zu helfen gibt. Von Äckern und Wiesen sieht man hier nicht viel, weil wir zwischen den Häusern bleiben müssen, aber Abends singen wir doch manchmal und denken oft an Euch. Grüßt alle lieben Nachbarn und seid selbst herzlich gegrüßt von Lisi, Arno und Euren Blocks.“
Gertrud fügte hinzu: „Wie denken oft an Knödel und Sauerkraut und es läuft uns das Wasser im Mund zusammen. Richtige Bäume sieht man nur von weitem. Die Häuser sind alle mit Holzschindeln und Stroh gedeckt, Dachplatten sieht man gar nicht. Schreibt auch recht klein, dass ihr viel schreiben könnt. Trudi.“
Andreas Salomon, Juli 2018
Dieser Text als PDF zum Download: Biographie der Familie Block (PDF)(
Alle Zitate stammen aus dem sehr lesenswerten Buch von Manfred Treml und Peter Miesbeck: Erinnerungszeichen. Die Tagebücher der Elisabeth Block. Augsburg/Rosenheim 1993 (Bezug über den Historischen Verein Rosenheim)
Ergänzende Informationen vor allem über Gertrud und Miriam Block finden Sie in unserem Zeitzeugengespräch mit Frau S., die mit Gertrud Block in eine Klasse an der Volksschule Zaisering gegangen ist.
Sehr berührt sind wir von der Vielzahl von Gegenständen – Fotos, Kunstwerke, Gartengeräte und Gebrauchsgegenstände – aus der Hinterlassenschaft der Familie Block, die heute noch von ihren Nachbarn aufbewahrt werden. Einen Teil von ihnen haben wir hier dokumentiert. Auf Wunsch der Familie sollen einige von ihnen der Gedenkstätte Yad Vashem übergeben werden.
Sehr berührt sind wir auch von diesem Beitrag des Schulradioprojektes „Simsseewelle“ der Otfried-Preußler-Mittelschule Stephanskirchen, der in Zusammenarbeit mit Schülerinnen der Mädchenrealschule Rosenheim entstand: