Gedenken am 9. November 2022

Über 77 Jahre nach dem Ende des Tausendjährigen Reichs hat nun auch die Stadt Rosenheim erstmals im öffentlichen Raum an ein Opfer des Naziterrors erinnert. An der Städtischen Realschule für Mädchen, die seit diesem Tag die Adresse „Elisabeth-Block-Platz 1“ führt, wurde die erste „Erinnerungsschleife“ in Form eines gewundenen Metallbands (Möbiusband) an einer Esche vor der Schule angebracht.

Unter der Erinnerungsschleife stehen (v.l.n.r.) Aaron Buck (IKG München),
Magdalena Singer (Schulleiterin der MRS), die BürgermeisterInnen Daniel Artmann und Gabriele Leicht,
dahinter Schülerinnen des UNESO-Projekts, die Kieselsteine bemalt und unter dem Baum abgelegt hatten.

Ohne die Iniative unserer Stolpersteingruppe, des Historischen Vereins und von Gesicht Zeigen hätten die Verantwortlichen der Rosenheimer CSU noch viel länger gebraucht. Insofern ist dies für alle ein Erfolg, die sich für die Erinnerungskultur stark machen! Mehr dazu im Bericht auf der Schul-Homepage

Unsere Initiative hat sich bewusst nicht an der Planung dieses Kunstwerks beteiligt – unsere Präferenz gilt weiter einem anderen Künstler, Gunter Demnig. Der hat folgende Meinung:
„Es gibt einige wenige Städte bzw. Initiativen, die sich gegen STOLPERSTEINE entschieden haben. Dies kann die unterschiedlichsten Gründe haben. Das häufigste Argument gegen die Steine ist jedoch, dass auf den Namen der Opfer herumgetrampelt wird. Insofern entscheiden sich diese Städte in den meisten Fällen für alternative Gedenkformen. Das ist völlig akzeptabel und belebt die deutsche Gedenklandschaft“.

So sehe ich es auch. Und ich freue mich für die Schule und für die Angehörigen, dass es nun ein öffentlich sichtbares Zeichen des Gedenkens an Lisi gibt. Über 700 Schülerinnen hatten in der Schulstunde vor der Gedenkstunde etwas über ihr Leben und ihr Schicksal erfahren. Dann sprachen die Schuldirektorin Magdalena Singer und der 2. Bürgermeister Daniel Artmann zu ihnen. Als Pate für das Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ hatte ich danach die Ehre, einige Worte zu sagen:

Sehr geehrte Bürgermeister,
Liebe Frau Singer, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,
Heute ist ein besonderer Tag. Zum ersten Mal bringt die Stadt Rosenheim ein Zeichen zur Erinnerung an die Opfer des Naziterrors im öffentlichen Raum an – also an einem Ort, wo alle es sehen können. Für Lisi Block, die hier zur Schule ging. Im November 1938 wurde sie als Jüdin der Schule verwiesen. Vier Jahre später wurde sie mit ihrer Familie nach Piaski in Polen deportiert und ermordet.
Vier Jahre ist es jetzt her, dass wir Stolpersteine vor ihrem Haus in Niedernburg bei Prutting verlegt haben: Für Lisi, für ihre Eltern Fritz und Miriam Block und für die Geschwister Arno und Trudi. Eure Schule hat die Patenschaft für einen dieser Steine übernommen.Vor vier Jahren waren fünf Angehörige der Familie Block aus Israel und England dabei, die Ihr hier seht:
David Slijper, Jacquie Richardson, Amnon Rimon, Rachel Slijper, Dana Bregman.


Als wir dieses Foto machten, wurde uns plötzlich klar, dass jede und jeder auf diesem Foto einen Großvater verloren hatte durch den Naziterror. Ich auch. Das verbindet. Obwohl wir nicht miteinander verwandt sind, kommt es mir vor, als würde ich zu ihrer Familie gehören.Daher finde ich es passend, dass ich heute für sie sprechen darf – nicht nur als Pate dieser Schule für das Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Sondern auch für die Angehörigen, die heute nicht hier sein können. Sie leben heute in England und in Israel.
In Deutschland sind gerade die „Aktionswochen gegen Antisemitismus“, also dagegen, dass jemand Juden hasst, weil sie Juden sind. Dieses Jahr geht es besonders um den israelbezogenen Antisemitismus, also dagegen, dass jemand Israel hasst, weil dort Juden sind.
Amnon Rimon lebt in Israel. Er hat mich gebeten, heute auch an seinen Großvater Dr. Leo Levy zu erinnern, der am 9./10 November während der Reichspogromnacht in seiner Wohnung in Bad Polzin von SA-Männern ermordet wurde. Heute vor 84 Jahren.
Lisi schreibt dazu in ihrem Tagebuch:
„Um uns von den traurigen Gedanken und Sorgen, die der Tod unseres lieben Onkels Leo und überhaupt die letzten zehn Tage mit sich brachten, zu befreien, machten wir einen schönen Spaziergang zu unserem lieben See, wo wir am Ufer in der warmen Herbstsonne saßen…“
„Unser lieber See“, das ist der Hofstetter See, um den ich auch oft spazieren gehe. Überhaupt beschreibt Lisi viele Ausflüge, die sie mit ihrer Familie gemacht hat und ich auch. Auch dadurch fühle ich mich ihr nahe. Vielleicht geht es Euch genauso, wenn Ihr in ihrem Tagebuch lest.
Lisi war eine von uns, und sie wurde brutal aus unserer Mitte gerissen und ermordet. Sie war eine von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Das ist eine Zahl, die ich mir nicht vorstellen kann. Aber jedes einzelne Schicksal können wir uns vorstellen.
Auch in Rosenheim gab es noch viele andere Opfer des NS-Terrors, und wir werden heute um 17 Uhr bei den Stolpersteinen vor der Münchener Str. 28 an sie erinnern. Alle sind herzlich eingeladen.
Lisi wäre nächsten Februar hundert Jahre alt geworden. Lisis Cousine Margarete Hinrichson ist letzten Monat 103 geworden! Sie lebt in London und erinnert sich gut an Lisi. Sicher ist sie glücklich darüber, dass es nun auch vor Lisis alter Schule ein Zeichen der Erinnerung gibt. Und dass Elisabeth Block auch in der Adresse der Schule sichtbar wird. Und vor allem: Dass Ihr alle ihre Geschichte kennt. Niemand von Euch ist verantwortlich für die Verbrechen, die damals verübt worden. Aber wir alle sind dafür verantwortlich, dass so etwas nie mehr geschieht.
Ich bin stolz und froh, dass Ihr an dieser Schule lernen könnt, was Antisemitismus und Rassismus bedeutet und wie Ihr ihn bekämpfen könnt.
Ich lese nun ein Gedicht zum Gedenken an die Shoah, das eigentlich ein Gebet ist.

Wir gedenken der sechs Millionen Toten und aller, die starben, als Wahnsinn die Welt regierte und das Böse in der Welt wohnte.Wir gedenken derer, die wir kannten, und derer, von denen nicht einmal ihr Name übrig blieb.
Wir trauern um alles, das mit ihnen starb: Ihre Güte und ihre Weisheit, die die Welt hätten bewahren können, die so viele Wunden hätten heilen können.
Wir trauern um den Geist und den Humor, die gestorben sind, um das Lernen und das Lachen, das für immer verloren ist.Die Welt ist ärmer geworden. Unsere Herzen frieren, wenn wir an die großen Dinge denken, die hätten sein können.
Wir sind dankbar für ihr Beispiel von Anstand und Güte. Wie Kerzen leuchten sie aus der Dunkelheit jener Jahre heraus. In ihrem Licht erkennen wir, was gut ist – und was böse.
Wir verneigen uns vor den Männern und Frauen, die nicht jüdisch waren und den Mut hatten, sich außerhalb der Masse zu stellen und mit uns zu leiden. Auch sie sind Deine Zeuginnen und Zeugen, eine Quelle der Hoffnung, wenn wir zu verzweifeln drohen.
Angesichts des Leids unseres Volkes beten wir: Mögen solche Zeiten niemals wiederkommen. Möge ihr Opfer nicht vergeblich sein. In unserem täglichen Kampf gegen Grausamkeit und Vorurteil, gegen Tyrannei und Verfolgung gibt uns die Erinnerung an sie Kraft und leitet uns.
In Stille gedenken wir derer, die Gottes Namen geheiligt haben auf Erden.

Nach der Veranstaltung gingen einige – darunter die Künstlerin Christiane Huber und ich – in die Schule und putzten den nicht verlegten Stolperstein für Lisi.

Fazit: Aus meiner Sicht eine gelungene Veranstaltung, auch wenn die Probleme der neuen Gedenkform offensichtlich sind: Einen Wiedererkennungswert hat die Schleife (noch) nicht, und es ist völlig unklar, wann und wo (und wie) weitere Zeichen installiert werden. Wir werden aufmerksam beobachten, wie die Stadt weiter vorgeht.

Am frühen Abend wurden alle übrigen Stolpersteine in Rosenheim geputzt.

Die Stolpersteine an der Münchener Str.

Auf dem Weg von Stein zu Stein besuchten wir auch die beiden Orte, wo vor 84 Jahren jüdische Geschäfte zerstört wurden – an der Gillitzerstr. 1 bei Familie Obernbreit und am Ludwigsplatz 14 bei Familie Westheimer. Mit Hilfe der Zahnarztpraxis gegenüber (vielen Dank dafür!) konnten wir sogar ein Foto der Familie an die Häuserfassade projizieren.

Beide Aktionen hatten ein gutes Presseecho:
Der BR berichtete in der Abendschau (ab Minute 14)
Das RFO sendete zwei gute Beiträge zur Veranstaltung an der Schule und zum Putzen der Stolpersteine
Die SZ hatte bereits am 9.11. einen ausführlichen Artikel im Bayernteil (in der Online-Version mit der seltsamen Überschrift „Abschied von den Stolpersteinen“, auf Papier mit dem treffenden Titel „Die Namen der Ermordeten“. Das OVB berichtete auf Seite 1 und ausführlich im Lokalteil.

Am 10.11. wurden auch die Stolpersteine für Familie Block in Niedernburg auf Hochglanz gebracht.